Introvertiert, extravertiert - oder einfach nur ich?
- Dr. med. Lienhard Maeck

- 13. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Wenn Sie jemals an einem Freitagabend lieber mit einem Buch, einer Katze oder einer Wärmflasche auf dem Sofa geblieben sind, während andere auf einer Party „so richtig abschalten“ – und Sie sich dabei gefragt haben, ob mit Ihnen etwas falsch ist: Vielleicht sind Sie einfach introvertiert. Oder, wie die Forschung sagen würde, eher am „introvertierten Ende des Persönlichkeitskontinuums“. Aber bevor Sie sich endgültig in die Sofaecke zurückziehen: Extravertierte haben’s auch nicht immer leicht. Für sie kann sich ein einsamer Sonntagvormittag ohne soziale Interaktion wie eine ausgewachsene Sinnkrise anfühlen. Beide Temperamente – das stille und das laute – haben ihre Stärken und Herausforderungen.

Was die Psychologie dazu sagt
Die Begriffe Introversion und Extraversion gehen ursprünglich auf den Psychiater Carl Gustav Jung (1875 - 1961) zurück, der damit zwei grundsätzliche Ausrichtungen des psychischen "Energiesystems" beschrieb: nach innen (introvertiert) oder nach aussen (extravertiert). Moderne Persönlichkeitsforschung – etwa im Big-Five-Modell – betrachtet Extraversion als eines von fünf stabilen Persönlichkeitsmerkmalen.
Menschen mit hoher Extraversion neigen dazu, gesellig, aktiv und gesprächig zu sein; sie suchen Anregung und Belohnung in der Aussenwelt. Introvertierte dagegen bevorzugen ruhigere Umgebungen, verarbeiten Reize tiefer und benötigen nach sozialen Ereignissen mehr Rückzugszeit, um wieder „aufzutanken“.
Neurowissenschaftliche Untersuchungen stützen diese Unterschiede: Introvertierte zeigen häufig eine höhere Grundaktivität im sogenannten aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem – vereinfacht gesagt, ihr Gehirn läuft schon bei moderater Stimulation auf Hochtouren. Extravertierte hingegen brauchen mehr Reize, um sich wohlzufühlen. Das erklärt, warum der eine nach zwei Stunden Smalltalk das Weite sucht, während es die andere gerade erst lustig findet.
Zwischen Schwarz und Weiss liegt … ziemlich viel Grau
Die wenigsten Menschen sind ausschliesslich intro- oder extravertiert. Die Forschung spricht von einem Kontinuum – und viele bewegen sich irgendwo in der Mitte. Der Begriff Ambivertierte beschreibt jene, die sich je nach Situation mal mehr nach innen, mal mehr nach aussen orientieren.
Ein Beispiel: Sie geniessen ein Abendessen mit Freunden, freuen sich aber heimlich auf den Moment, wenn Sie wieder allein den Geschirrspüler einräumen dürfen. Klingt paradox? Willkommen im echten Leben.
Missverständnisse und Mythen
Introvertierte sind keine Mauerblümchen, und Extravertierte sind nicht automatisch oberflächlich. Introvertierte hören oft genauer hin, beobachten schärfer und treffen überlegte Entscheidungen. Extravertierte wiederum können leichter Kontakte knüpfen, inspirieren andere und bringen Energie in Gruppen. Beides sind wertvolle, funktionale Strategien – solange man nicht versucht, sich in die jeweils andere Schublade zu pressen.
Der psychologische Schlüssel liegt in der Selbstakzeptanz: zu verstehen, dass Persönlichkeit keine Bewertung ist, sondern eine Beschreibung. Wenn Sie Ihre eigenen Bedürfnisse nach Ruhe, Kontakt, Spannung oder Stille kennen, können Sie gezielter für sich sorgen – und müssen sich nicht länger erklären, warum Sie bei Networking-Events plötzlich „vergessen, wie man redet“.
Und was heisst das für den Alltag?
Wenn Sie eher introvertiert sind: Planen Sie bewusste Erholungszeiten ein – keine Flucht, sondern Pflege Ihrer inneren Batterie. Kommunizieren Sie Ihren Rückzugsbedarf klar, bevor Sie erschöpft sind.
Wenn Sie eher extravertiert sind: Üben Sie, Stille auszuhalten. Vielleicht entdecken Sie, dass aus Langeweile auch Kreativität entstehen kann (siehe auch hier).
Und für alle gilt: Die Welt braucht sowohl die, die zuhören, als auch die, die erzählen. In Teams, in Beziehungen, im Freundeskreis. Der Trick besteht darin, die eigenen Ressourcen zu kennen – und sie so einzusetzen, dass sie uns nicht ausbrennen, sondern nähren.
Fazit
Ob Sie nun lieber im Rampenlicht stehen oder im Hintergrund wirken – entscheidend ist nicht, was Sie sind, sondern wie gut Sie sich kennen. Psychologische Forschung zeigt: Wohlbefinden entsteht nicht durch Anpassung an ein Ideal, sondern durch Authentizität.
Vielleicht ist die geeignetste Antwort auf die Frage „Bin ich introvertiert oder extravertiert?“ also schlicht: „Kommt drauf an – aber ich bin ziemlich gut darin, ich selbst zu sein.“
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag dient nur zu Informationszwecken und ersetzt keine professionelle Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten.

