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Traumafolgestörungen: Teil 1/5

  • Autorenbild: Dr. med. Lienhard Maeck
    Dr. med. Lienhard Maeck
  • 18. Mai
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 19. Mai

Viele Menschen erleben im Laufe ihres Lebens ein oder mehrere potenziell traumatische Ereignisse – also Situationen, die erschüttern, überfordern und die eigene innere Stabilität tief ins Wanken bringen können. Während manche solche Erfahrungen mit der Zeit verarbeiten, entwickeln andere daraus sogenannte Traumafolgestörungen. Diese können das Leben nachhaltig beeinflussen – emotional, körperlich, sozial. In diesem ersten Teil meiner Serie schauen wir genauer hin: Was ist überhaupt eine Traumafolgestörung? Wie unterscheiden sich die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die komplexe Traumafolgestörung (k-PTBS)? Und wie häufig sind sie in der Schweiz?



Was ist ein psychisches Trauma?


Ein psychisches Trauma entsteht durch ein Ereignis, das als lebensbedrohlich, extrem beängstigend oder ohnmächtig machend erlebt wird – etwa ein schwerer Unfall, Gewalt, Missbrauch, Naturkatastrophen oder Krieg. Auch Vernachlässigung in der Kindheit oder der plötzliche Verlust einer nahestehenden Person können traumatisch wirken, wenn sie die emotionale Verarbeitung überfordern. Nicht jede Person entwickelt nach einem Trauma eine psychische Störung. Wenn das Erlebte aber so tief nachwirkt, dass das Sicherheitsgefühl dauerhaft erschüttert ist, sich Symptome einstellen und der Alltag massiv beeinträchtigt wird, spricht man von einer Traumafolgestörung.



Zwei Hauptformen: PTBS und komplexe PTBS


Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist die bekannteste Form einer Traumafolgestörung. Sie wurde bereits in der ICD-10 – der internationalen Klassifikation von Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – beschrieben. Mit der Einführung der ICD-11 (die seit 2022 schrittweise in der Schweiz umgesetzt wird) kam eine zweite Form hinzu: die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (k-PTBS).


Die "klassische" PTBS tritt meist nach einem einzelnen traumatischen Ereignis auf – zum Beispiel nach einem Überfall, einem Verkehrsunfall oder einer Vergewaltigung. Die wichtigsten Symptome sind:


  • Wiedererleben (Intrusionen): Flashbacks, Albträume oder plötzliche Erinnerungen, bei denen das Trauma emotional erneut durchlebt wird.

  • Vermeidung: Alles, was an das Erlebte erinnert, wird gemieden – seien es Orte, Menschen oder Gespräche.

  • Anhaltende Übererregung: Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme, Schreckhaftigkeit – der Körper bleibt im "Alarmmodus".

  • Negative Veränderungen in Stimmung und Denken: Gefühle von Schuld, Scham, Misstrauen oder Entfremdung gegenüber anderen.


Diese Symptome müssen über einen Zeitraum von mindestens vier Wochen bestehen, um als PTBS zu gelten.


Die komplexe PTBS betrifft vor allem Menschen, die über längere Zeit und wiederholt traumatisiert wurden – etwa durch langanhaltenden sexuellen Missbrauch, emotionale Vernachlässigung in der Kindheit oder andauernde häusliche Gewalt. Zusätzlich zu den oben genannten PTBS-Symptomen treten hier drei weitere Kernmerkmale auf:


  1. Störungen in der Emotionsregulation – etwa Wutausbrüche, plötzliche Gefühlsleere oder das Gefühl, von Emotionen überwältigt zu werden.

  2. Ein tiefgreifend negatives Selbstbild – Gefühle von Wertlosigkeit, Scham, Schuld oder das Empfinden, "grundlegend falsch" zu sein.

  3. Chronische Beziehungsprobleme – Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen, Nähe zuzulassen oder stabile Beziehungen aufzubauen.


Diese Form der Traumafolgestörung ist oft schwerer zu erkennen, weil ihre Auswirkungen nicht nur das Erleben des Traumas betreffen, sondern auch das Selbstbild, die Gefühlswelt und die Beziehungsfähigkeit eines Menschen tiefgreifend verändern können. Es müssen also eine Reihe von anderen diagnostischen Kategorieren miterwogen werden.



Unterschiede zwischen ICD-10 und ICD-11


In der ICD-10 wurde nur die "klassische" PTBS beschrieben. Viele Betroffene mit komplexeren Verläufen passten damit nicht ganz ins Raster – was auch therapeutisch problematisch war. Die ICD-11, die seit einiger Zeit in der Schweiz eingeführt wird, unterscheidet nun klar zwischen PTBS und komplexer PTBS. Das ist ein wichtiger Schritt, um Leidenswege besser zu verstehen – und gezielter zu behandeln.



Wie häufig sind Traumafolgestörungen in der Schweiz?


Laut Studien liegt die Lebenszeitprävalenz für PTBS in der Schweiz bei etwa 3 bis 4 Prozent. Das heisst, dass rund jede 25. Person im Laufe ihres Lebens eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Nach besonders schweren Traumata – etwa sexueller Gewalt oder Kriegsereignissen – liegt die Wahrscheinlichkeit deutlich höher: Zwischen 25 und 35 Prozent der Betroffenen entwickeln eine PTBS.


Zahlen zur komplexen PTBS liegen derzeit noch nicht flächendeckend vor, da die Diagnose relativ neu ist. Internationale Studien deuten aber darauf hin, dass diese Form besonders häufig bei Menschen vorkommt, die über lange Zeiträume chronischen Belastungen ausgesetzt waren – oft schon in der Kindheit.



Fazit


Eine Traumafolgestörung ist eine seelische Reaktion auf extreme Belastung. Sie kann das Leben tiefgreifend beeinflussen, aber sie ist behandelbar. Entscheidend ist, dass Betroffene verstanden und ernst genommen werden – und Zugang zu fachlicher Hilfe bekommen. Im nächsten Teil unserer Serie geht es um die Frage: Wie wird eine Traumafolgestörung eigentlich diagnostiziert?


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag dient nur zu Informationszwecken und ersetzt keine professionelle Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten.

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