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Warum wir in Krisen oft die besten Entscheidungen treffen - und manchmal die schlechtesten

  • Autorenbild: Dr. med. Lienhard Maeck
    Dr. med. Lienhard Maeck
  • 22. Aug.
  • 4 Min. Lesezeit

Wenn Klarheit und Chaos dicht beieinander liegen

Es gibt Momente, da sind wir in Krisen erstaunlich handlungsfähig. Das Büro brennt, der Feueralarm heult, und plötzlich funktionieren Dinge wie von selbst: Menschen reagieren schnell, klar, zielgerichtet. Einer organisiert die Flucht, eine andere beruhigt die Kollegen, jemand trägt gleichzeitig Laptops, Kaffee und die Praktikantin hinaus. Alles wirkt wie von einem unsichtbaren Drehbuch gesteuert.


Und dann gibt es die andere Sorte Krise: die stillen, inneren. Mitten in der Nacht, kein Feuer, kein Rauch, aber im Kopf Alarmstufe Rot. Auf einmal erscheint es völlig vernünftig, am nächsten Morgen zu kündigen, nach Australien auszuwandern oder gleich ein völlig neues Leben zu beginnen. Manche Patient:innen berichten, dass ihre Nächte sich anfühlen wie endlose Krisensitzungen im Kopf – nur leider ohne Protokoll und ohne klaren Ausgang.


Beide Situationen haben etwas gemeinsam: Das Gehirn steht unter Stress. Aber während wir in akuten Gefahren oft überraschend gute Entscheidungen treffen, verirren wir uns bei seelischem Druck manchmal in haarsträubende Gedankengänge.


Zwischen Regen und Richtungswahl: Welche Entscheidung führt aus dem Sturm?
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Was in der Krise im Gehirn passiert

Damit Sie verstehen, warum wir mal Helden und mal Chaos-Manager unserer eigenen Psyche sind, lohnt wieder einmal ein Blick ins Gehirn.


Die Amygdala – eine kleine Struktur tief im Inneren – ist so etwas wie unser innerer Alarmknopf. Sie registriert Gefahr in Bruchteilen von Sekunden und aktiviert das Stresssystem. Herzschlag, Muskelspannung, Adrenalin – alles fährt hoch. Evolutionär war das überlebensnotwendig: Wer vor dem Säbelzahntiger lange überlegte, war schnell Geschichte.


Das Gegenstück ist der Präfrontalkortex, die „Chefetage“ unseres Gehirns. Hier sitzen Vernunft, Planung und Weitblick. Unter normalen Umständen trifft er unsere wichtigen Entscheidungen. Doch unter Stress hat er ein Problem: Er wird von der Amygdala oft übertönt. In echten Gefahrensituationen ist das sogar sinnvoll – doch in inneren Krisen sorgt es für Chaos.


Wann Stress uns zu Höchstleistungen bringt

Viele Patient:innen berichten, dass sie in akuten Notlagen „wie automatisch“ richtig gehandelt haben. Dieses Phänomen ist gut untersucht:


  • Prioritäten schrumpfen auf das Wesentliche. Wenn es ums Überleben geht, wird die To-do-Liste radikal gekürzt. Statt über Kleinigkeiten nachzudenken, konzentriert sich das Gehirn auf die eine wichtige Entscheidung: Z. B. Weglaufen.

  • Die Intuition arbeitet auf Hochtouren. Intuition ist nichts Mystisches, sondern gespeicherte Erfahrung. Unser Gehirn erkennt Muster blitzschnell und greift auf „Abkürzungen“ zurück, die oft erstaunlich präzise sind.

  • Tunnelblick kann hilfreich sein. Normalerweise ist ein Tunnelblick eher hinderlich. Aber in einer echten Krise blendet er Ablenkungen aus und richtet den Fokus nach vorne, auf das Wesentliche.


So erklären sich diese Momente, in denen Menschen plötzlich über sich hinauswachsen – sei es bei einem Unfall, in einer medizinischen Notlage oder im Alltag, wenn etwas wirklich Wichtiges auf dem Spiel steht.


Warum uns dieselben Mechanismen in die Irre führen können

Das Problem: Nicht jede Krise ist eine Frage von Leben und Tod. Psychische Krisen, wie Grübeln, Überforderung oder Konflikte, aktivieren das gleiche Alarmsystem – ohne dass eine echte Gefahr besteht.


Die Folge:


  • Wir reagieren impulsiv und unüberlegt.

  • Kleinere Probleme werden zu Katastrophen hochskaliert.

  • Oder wir erleben einen Blackout – wie bei Prüfungsangst, wenn plötzlich alles Gelernte verschwunden scheint.


Besonders nachts zeigt sich dieses Muster. Während die Amygdala erstaunlich wach ist, ist der rationale Präfrontalkortex im Ruhemodus. Mit anderen Worten: Das Alarmsystem ist aktiv, die Vernunft hat Feierabend. Kein Wunder also, dass nächtliche Entscheidungen selten die besten sind.


Psychotherapeutische Sicht: Echte Gefahr vs. seelischer Alarm

In der Praxis begegnet mir - sinngemäss - oft folgender Satz: „Wenn’s wirklich brennt, bin ich klar. Aber bei inneren Konflikten fühle ich mich völlig verloren.“ Das spiegelt genau die Dynamik wider: In echten Gefahren kann man sich auf viele automatische Reaktionen erstaunlich gut verlassen. In seelischen Krisen aber hilft es, das Stresssystem zu entlarven und ihm nicht blind zu folgen.


Psychotherapie kann hier unterstützen: Sie hilft dabei, den Unterschied zwischen „echtem Feuer“ und „Feuer im Kopf“ zu erkennen. Denn während es im Büro sinnvoll ist, sofort loszurennen, ist es bei Beziehungsfragen oder Jobentscheidungen meistens schlauer, die Dinge zu sortieren.


Praktische Strategien für bessere Entscheidungen

Die gute Nachricht: Wir sind unseren Stressreaktionen nicht völlig ausgeliefert. Ein paar kleine Strategien können helfen, das Chaos im Kopf zu ordnen:


  • Die 24-Stunden-Regel: Wichtige Entscheidungen nicht nachts und nicht im Hochstress treffen, sondern auf den nächsten Tag verschieben.

  • Bewusstes Atmen: Schon ein paar tiefe Atemzüge können das Stresssystem dämpfen und den Präfrontalkortex wieder „aufschalten“.

  • Gedanken parken: Wer nachts grübelnd wachliegt, kann Gedanken aufschreiben. Das entlastet den Kopf, ohne sofort eine Entscheidung erzwingen zu müssen.

  • Mini-Pausen: Bei Streit oder Überforderung lohnt es sich, kurz aus der Situation zu gehen, bevor man reagiert. Helfen kann auch, bis 100 zu zählen, bevor man sich äussert.

  • Hilfe annehmen: Wenn Krisen chronisch werden, kann professionelle Unterstützung helfen, Muster zu durchbrechen.


Und zum Schluss noch ein bildhafter Vergleich

Unser Gehirn ist wie ein Auto mit zwei Fahrern. Die Amygdala ist der Rallyefahrer – schnell, impulsiv, risikofreudig. Der Präfrontalkortex ist der Fahrlehrer – bedacht, regelbewusst, vernünftig. In echten Krisen ist es wunderbar, wenn der Rallyefahrer übernimmt. Aber sobald es nur um nächtliches Grübeln oder Alltagsprobleme geht, sollte man lieber den Fahrlehrer ans Steuer lassen.


Oder, noch einfacher: Grosse Lebensentscheidungen trifft man besser bei Tageslicht – und möglichst nicht nach 22 Uhr. Denn da macht das Gehirn gern Überstunden, aber nicht unbedingt die produktivsten.


Fazit

Krisen bringen das Beste und das Schlechteste in uns hervor. Wir können darin ungeahnte Kräfte mobilisieren – oder uns hoffnungslos im Gedankenlabyrinth verirren. Wer die Mechanismen kennt, kann lernen, die Klarheit der einen Seite zu nutzen und die Fallen der anderen zu umgehen. Und manchmal hilft schon ein kleiner Aufschub, eine kurze Atemübung oder ein guter therapeutischer Dialog, um die Chefetage im Gehirn wieder ans Ruder zu holen.

Disclaimer: Dieser Blogbeitrag dient nur zu Informationszwecken und ersetzt keine professionelle Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten.

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