Prokrastination: Warum wir aufschieben - und was das mit Angst zu tun hat
- Dr. med. Lienhard Maeck

- 13. Jan.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 3 Tagen
Wir alle kennen diese seltsam elegante Fähigkeit des menschlichen Gehirns, unliebsame Aufgaben in einen imaginären Hinterraum zu schieben. Dort stapeln sie sich dann wie Tupperdosen ohne Deckel: Man weiss, sie sind da, man weiss, sie nerven – und trotzdem fasst man sie nicht an. Die Frage ist: Warum tun wir das? Und noch spannender: Was hat das Ganze mit Angst zu tun? Spoiler: Ziemlich viel.
Prokrastination ist selten ein Faulheitsproblem
Fangen wir mit einem Mythos an: Aufschieber gelten oft als faul oder unmotiviert. Neurobiologisch ist es aber eher so, als würden in deinem Gehirn zwei Parteien miteinander diskutieren:
Das limbische System (Emotionszentrum): „Diese Aufgabe fühlt sich unangenehm an. Weg damit!“
Der präfrontale Kortex (Planungszentrum): „Das ist wichtig. Wir sollten es jetzt tun.“
Das Problem: Das limbische System "redet" lauter und schneller. Es ist das evolutionär ältere System und damit näher an den Instinktreaktionen. Der präfrontale Kortex ist quasi die vernünftige Erwachsenenstimme, die leider oft klingt wie jemand, der höflich um Aufmerksamkeit bittet, während die Amygdala mit Megafon und Nebelmaschine unterwegs ist.
Wo die Angst ins Spiel kommt
Viele Aufgaben sind gar nicht objektiv schwierig – aber sie fühlen sich emotional bedrohlich an. Und sobald Bedrohung im Spiel ist, wird die Amygdala aktiv. Das ist das Hirnareal, das uns früher vor Fussangeln, Klapperschlangen und sabbernden Raubkatzen gerettet hat.
Heute reagiert dieselbe Amygdala gerne auf:
„Ich muss meiner Chefin etwas erklären.“
„Ich muss eine Mail beantworten, die vielleicht kritische Rückfragen auslöst.“
„Ich muss eine Aufgabe erledigen, von der ich nicht sicher bin, ob ich es gut hinkriege.“
Das sind keine realen Gefahren. Aber sie sind psychologisch bedeutsam.
Der Körper merkt nur: Unangenehm! Stress! Mögliches Scheitern! Gefahr!
Und dann läuft das Fluchtprogramm an, wobei die Flucht heute Prokrastination heisst.
Die meisten Aufschiebe-Aktionen haben also eine subtile Form von Angst im Hintergrund – oft getarnt als „keine Lust“, „später“, „ich brauche erst Kaffee“, „ich muss noch das Sockenschubladen-Archiv ordnen“.
Neurobiologie in 60 Sekunden
Damit es handfest bleibt, hier kurz die biochemische Bühne:
Amygdala: bewertet Bedrohungen. Sie reagiert schneller als der präfrontale Kortex und beeinflusst unsere Körperreaktionen (Herzfrequenz, Muskelspannung, Unruhe).
Präfrontaler Kortex: zuständig für Planung, Abwägen, Entscheidungen. Er ist langsam, rational und etwas sensibel – Stress schaltet ihn gerne in den „ich bin dann mal weg“-Modus.
Dopamin: verantwortlich fürs Belohnungssystem. Dopamin lässt uns Sofortbelohnungen lieben („kurzes Scrollen“, „YouTube-Video Nr. 274“) und weniger die Aufgaben, deren Belohnung irgendwann später kommt.
Prokrastination entsteht genau zwischen diesen drei Playern:
Angst → Amygdala meldet Gefahr → präfrontaler Kortex wird leiser → Dopamin flüstert: „Komm, mach etwas Angenehmes!“ Und zack: schon sitzt man mit Chips auf dem Sofa und googelt, ob Faultiere eigentlich faul sind (Spoiler: sind sie nicht. Sie sparen Energie. Klingt vertraut?).
Warum wir nicht die Aufgabe meiden - sondern das Gefühl
Der zentrale Punkt ist also: Wir schieben nicht Aufgaben auf – sondern vorweggenommene Gefühle.
Die Aufgabe ist selten das Problem. Es sind die inneren Reaktionen darauf:
Angst, zu scheitern
Angst, nicht perfekt zu sein
Angst, kritisiert zu werden
Angst vor Überforderung
Angst vor dem eigenen Anspruch
Das Gehirn will unangenehme Gefühle vermeiden. Und es ist darin hervorragend. Kurzfristig fühlt sich Aufschieben sogar gut an – die Anspannung fällt ab. Ahhh.
Langfristig wird’s allerdings schlimmer, denn die Aufgabe bleibt im Kopf wie ein blinkender Hinweis im Auto: „Ölstand prüfen!“ – den man monatelang ignoriert, bis etwas raucht.
Okay - und was kann ich dagegen tun?
Die Forschung ist ziemlich klar: Willenskraft allein reicht nicht. Es geht eher darum, das Gehirn so zu „nudgen“, dass die Aufgabe weniger bedrohlich wirkt.
Hier die wirksamsten Strategien:
1. Aufgaben zerteilen, zerteilen, zerteilen
Der präfrontale Kortex liebt Klarheit. Aus „Bachelorarbeit schreiben“ wird: „Word öffnen.“
Aus „Rasen mähen“ wird: „Rasenmäher betanken.“ Aus „Steuererklärung machen“ wird: „Umschlag öffnen – ohne reinzuschauen.“ Die Amygdala kapiert: „Das ist ja gar nicht so schlimm.“
2. Drei-Minuten-Anfang
Nur drei Minuten starten. Die Idee dahinter: Der Einstieg in eine Aufgabe wird als besonders bedrohlich wahrgenommen, weniger die Aufgabe selbst. Wenn man einmal drin ist, läuft’s meistens weiter.
3. Den Angst-Trigger identifizieren
Kurz fragen: Was daran macht mir Angst? Schon das bewusste Benennen aktiviert den präfrontalen Kortex – und nimmt der Amygdala das Megafon weg.
4. Selbstmitgefühl kultivieren
Klingt weich, ist aber neurobiologisch ein Gamechanger. Denn ein warmer innerer Umgang mit sich selbst senkt Stresshormone und stabilisiert den Präfrontalen Kortex. Selbstvorwürfe führen hingegen zu Stress und verstärken damit exakt die Prozesse, die Prokrastination antreiben.
5. Sofortbelohnungen einbauen
Das Belohnungssystem braucht Futter. Kleine Aufgabe -> kleine Belohnung. Ein Kaffee, ein kurzer Spaziergang, ein Song. Das ist keine Manipulation – es ist angewandte Psychologie.
6. Friktion reduzieren
Vorbereitung erleichtert Handeln. Material bereitlegen, Dokument öffnen und offen lassen, nicht gebrauchte Browser-Tabs schliessen. Die Einstiegshürde wird kleiner – die Angst gleich mit.
Und der wichtigste Punkt: Verständnis statt Kampf
Prokrastination verschwindet nicht durch „mehr Disziplin“. Sie lässt sich aber reduzieren, wenn wir verstehen, was wirklich passiert: ein Zusammenspiel aus Angst, Stress und neurobiologischen Automatismen. Wer erkennt, welche Emotion er vermeidet, bekommt eher wieder Kontrolle über seine Aufgaben. Wer lernt, sich selbst weniger zu kritisieren, nimmt dem ganzen Problem die Schwere. Und wer versteht, wie das eigene Gehirn funktioniert, fühlt sich weniger hilflos. Am Ende ist Prokrastination keine Selbstsabotage, sondern ein übervorsichtiges Nervensystem, das uns vor einer Gefahr schützen will, die gar nicht da ist. Wenn wir diesem System kleine, mutige, gut verdauliche Schritte anbieten, merkt es: Ah, da kommt gar kein Säbelzahntiger, nur eine Aufgabe. Und schon kommen wir leichter in die Gänge.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag dient nur zu Informationszwecken und ersetzt keine professionelle Beratung durch einen Arzt oder Therapeuten.



